Tamás Kis
(Debrecen, Ungarn)
1.
Die allerersten schriftlichen
Aufzeichnungen von ungarischem Slang sind — wie im Fall des französischen,
deutschen, englischen oder tschechischen Slangs — innerhalb jener
gesellschaftlicher Bereiche erhalten, wo er sich neben dem “anständigen” (den
Normen der Mehrheit entsprechenden) Fachjargon aus den Slangs der Diebe und
der Bettler ableitete (und deren gruppenspezifische Merkmale trägt). Zumindest
bestätigen die Dokumente, die bisher verfügbar gemacht werden konnten, die
Annahme, dass mit einem frühen Auftauchen von Slang bzw. Gaunersprache in
schriftlicher Form nur fallweise gerechnet werden kann. Die Gaunersprache ist
eine typisch mündliche Erscheinung, sie findet sich sehr selten schriftlich
festgelegt, solange es keinen besonderen Grund gibt, der Schriftlichkeit
erfordert. Für die ersten Aufzeichnungen der ungarischen Gaunersprache in den
frühen Etappen der Schriftlichkeit lieferten einen solchen Grund in erster
Linie Rechtsakte und verschiedene Strafprozesse, da es sich während des
Verhörs der Verbrecher, die zu großeren Banden gehörten, als nötig erwies, die
Worte und die Namen der Bandenmitglieder aufzuzeichnen, die sie unter einander
gebrauchten.
Gerichte hielten das Kennenlernen der Sprache der Ganoven für
wichtig, nicht nur, um die Kommunikation innerhalb krimineller Kreise zu
verstehen, sondern auch, weil die Kriminalorgane die Kenntnis und den Gebrauch
der Gaunersprache eindeutig als einen Schuldbeweis auffassten. Die Kenntnis
ihrer Sprache war eine der Verfahrensweisen, um Kriminelle zu entlarven und
sich gegen sie zu schützen. Sich mit dieser Einstellung mit dem Slang der
Diebe auseinanderzusetzen, ist nicht nur im Fall der frühen Slang-Dokumente
typisch: In Ungarn war bis vor kurzem zu beobachten, dass Wörterbücher der
Gaunersprache als geheimes Werk der Polizei für internen Gebrauch ausgegeben
werden, um Verbrecher erfolgreicher zu überführen.[1]
2.
In erster Linie kann im Fall von
Personennamen und speziell bei den Spitznamen damit gerechnet werden, dass
Slangmerkmale zum Vorschein kommen, die auch aus sprachgeschichtlicher Sicht
als früh zu qualifizieren sind. Personennamen waren nämlich diejenigen
sprachlichen Elemente, welche Notare mit offizielleren bzw. normierteren
sprachlichen Formen nicht wiedergeben konnten oder wollten.
Dementsprechend ist es nicht überraschend, dass das erste
sichere Denkmal der ungarischen Gaunersprache in einem Urteil von 1364 zu
finden ist, in dem eine Person, die auch als
Pál
Filetlen [Paul Ohrenloser] benannt
wird, Zagyurwagou (in der heutigen
Rechtschreibung Szatyorvágó) heißt.[2] Seinen beiden Spitznamen zufolge lässt sich behaupten, dass
Pál Filetlen ein Dieb war, und zwar ein
szatyorvágó, (Beutelschneider), das heißt, er stahl durch Aufschlitzen von
Taschen, und wie seine “Ohrenlosigkeit” beweist, war er ein Rückfalltäter, der
in Form der damals üblichen Verstümmelung auch vorher schon einmal bestraft
worden war. Aus der Verwendung des Wortes
szatyorvágó als Spitzname ist zu
schließen, dass es selbst als Gattungsname des Argots des 14. Jahrhunderts in
der Bedeutung ’Beutelschneider’ existierte.
3.
In Verbindung mit Slangnamen verfügt
die Forschung über keine zeitgenössischen Feststellungen dazu, ob das, was sie
für Slang hält, auch nach Meinung der damaligen Sprecher Slang war. Solche von
den Sprechern selbst bzw. von den Personen, die ihre Sprache aufzeichneten,
stammenden Kommentare und Bewertungen traten erst in Bezug auf den
eigenartigen Sprachgebrauch von sozial devianten Gruppen auf, denn die Sprache
derer, die sich außerhalb der Gesellschaft organisierten, weckte das Interesse
der Außenseiter, sie funktionierte als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer
Gruppe. Wir können annehmen, je mehr sich eine Gruppe von der sprachlichen
Umwelt unterscheidet, je mehr sie sich von ihr abschließt (bzw. dazu gezwungen
wird, sich abzuschließen), desto mehr Unterschiede weist der für die Gruppe
typische Sprachgebrauch, also auch ihr Slang, vom Sprachgebrauch der Mehrheit
auf. In der ungarischen (und europäischen) Gesellschaft des Mittelalters und
der Epoche direkt danach kann man solche eigentümlichen, die tradierten Werte
und Lebensweisen zurückweisenden Gruppen, die in den Augen der “normalen”
Gesellschaft Devianz-Status besitzen, vor allem in der Subkultur der Diebe und
Bettler, die sich oft verbinden und sich wie Zünfte konstituieren, wahrnehmen.
Da die Gaunersprache eine der wichtigsten Derivate des Slangs jeder Sprache,
so auch der ungarischen ist, lohnt es sich, sich mit ihrer Entfaltung etwas
eingehender zu beschäftigen.
3.1.
Bei der Herausbildung des Fachslangs
der Diebe und der Bettler war — wie bei der Entstehung jeder Art von Slang —
das Zustandekommen einer Gemeinschaft nötig, die verhältnissmäßig geschlossen
war, intensiven Sprachkontakt pflegte und als Gruppe im soziologischen Sinne
bezeichnet werden kann, indem sie über eine gemeinsame Wertordnung und eine
innere Hierarchie verfügt. Die Herausbildung solcher Gruppen — nach
offensichtlich verschiedenen Vorgeschichten — kann mittels der Genese
bestimmter Subkulturen in der Bevölkerung erklärt werden. Das Zustandekommen
einer Gegenkultur der Diebe und Bettler hängt eng mit der plötzlichen
Stagnation des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens am Anfang des
14. Jahrhunderts in Westeuropa zusammen. Aus verschiedenen Gründen wurden im
mittelalterlichen feudalen Europa Hunderttausende besitzlos und dazu
gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen.
Die vor Hunger und Pest fliehenden gewaltigen Massen waren mit
einem zerstörerischen Heer von in Banden auftretenden Söldnern,
Straßenräubern, gewalttätigen falschen Bettlern und anderen Gruppen
konfrontiert, die außer der Gesellschaft standen und binnen einiger Jahre
überall in Europa berüchtigte Räuberhöhlen und Mördergruben einrichteten.
Vielleicht war es eine solche Räuberhöhle und Mördergrube,
bekannt unter dem Namen “Hof der Wunder” (Cour des miracles), die auch
François Villon besuchte, woher Morgens Hinkende, Lahme, Diebe, Mörder,
eheliche und uneheliche Kinder eifrig hervorströmten, um mit ihren
verkrüppelten Körpern und zu Missgeburten entstellten Gesichtern die Pariser
dazu zu bringen, sich ihrer zu erbarmen und ihnen Almosen zu spenden. Gegen
solche Diebs-, Landstreicher- und Bettlergruppen wurden schon am Ende des 13.
und am Anfang des 14. Jahrhunderts blutige Gesetze erlassen. Die Betroffenen
am Rande der Gesellschaft reagierten auf diese blutigen Gesetze ihrerseits mit
eigenen Organisationen und Vereinigungen. Zusammenschlüsse bündischer Art
gelten übrigens ja allgemein als hervorstechendste Eigenheit dieser Epoche.
Bettler und Diebe schlossen sich wie die Vertreter anderer
Handwerke in Zünften zusammen, die über verbindliche Mitgliedschaft und
begrenzte rechtliche Autonomie verfügten. Diese Berufsgemeinschaften begannen
sich im 11. Jahrhundert nach dem Muster der verschiedenen frommen
Andachtsgesellschaften herauszubilden und wie ihre sich zu religiösen und
wohltätigen Zwecken organisierenden Vorgänger erfüllten sie in erster Linie
defensive Aufgaben. Nach dem Muster der religiösen Assoziationen bildeten die
Zünfte auch ihre spezifischen Organisationsstrukturen aus. Daraus leiten sich
die organisatorischen Regeln und die alltäglichen Gewohnheiten ab, die dann so
lange ihr Leben bestimmten.[3]
Die mittelalterliche zunftmässige Organisation der Diebe wurde
in fast unveränderter Form am längsten (bis Ende des zweiten Weltkrieges) in
Russland beziehungsweise in der UdSSR aufbewahrt und man kann sie mit einigen
Veränderungen bis heute antreffen, sie wahren die Hierarchie innerhalb der
Diebeswelt, die kodifizierten Diebesgesetze usw.[4] (Auch dieser Hintergrund erklärt übringens die erfolgreiche
globale Expansion der russischen Mafia in den neunziger Jahren.)
3.2.
Die sprachliche Folge der
Organisierung der Diebes- und Bettlerzünfte war die Geburt der Diebes- und
Bettlerslangs. Das Zustandekommen dieser Sprachvarianten, die
Zusammengehörigkeit ausdrücken und die Schlagkraft der Gruppe garantieren, ist
ein natürlicher und unvermeidlicher Prozess, man kann im Fall der Diebes- und
Bettlersubkulturen auch die Regel beobachten, dass das Argot gleichzeitig zum
Mittel der Geheimniswahrung und der Abschirmung gegen die Außenwelt wurde. Die
Kenntnis der Gaunersprache war in diesen geschlossenen Gesellschaften, deren
Leben durch genaue Normenkodifikation geregelt war, eine Bedingung für die
Zugehörigkeit zur Diebesgesellschaft.
Die Aneignung des Argots bedeutete für ein neues Mitglied nicht
nur sprachliche Kenntnis, sondern auch die Annahme der Normen- und Wertordnung
der Gemeinschaft, nicht nur spontane Übernahme des Wortinventars, wie es von
den anderen gehört wurde, sondern Belehrung der Neulinge durch Eingeweihte.
Wenn die Gerichte die Kenntnis der Gaunersprache als Erkennungsmerkmal von
Dieben bezeichneten, kann dies im Brauch der “sprachlichen Einweihung” seinen
Grund haben. Das bestätigt auch das Eingeständnis eines Bandenführers von
1776: “…die ungarischen Ganoven kann man an ihrer Spache erkennen”.[5]
Gegen das Bestreben, die Gaunersprache kennenzulernen,
schützten sich Kriminelle angeblich mit deren absichtlicher Veränderung. Wir
kennen dafür zwar kein Beispiel aus Ungarn, aber die ausländischen Quellen
weisen mehrmals auf regelmässig veranstaltete Diebeskonferenzen hin, auf denen
— Informationen zufolge, die aus verständlichen Gründen nicht genügend
gesichert sind — die alten Wörter der Gaunersprache durch neue ersetzt wurden.[6] In der archaische Eigenschaften bewahrenden russischen
Diebesgesellschaft lebt auch heute noch der Glaube, dass auf den
Diebeskongressen über die Wörter entschieden wird, die in die Gaunersprache
aufgenommen werden dürfen und die ersetzt werden. Die Gaunersprache ist aber
ein zu beständiger und organischer Fachslang als dass er künstlich geregelt
werden könnte.[7]
3.3.
Spätestens während des 19.
Jahrhunderts wurde die archaische zunftmässig organisierte Diebesgesellschaft
überall in Europa von der modernen Unterwelt abgelöst, die sich nicht mehr als
autonome Gesellschaft unterhalb der anständigen Gesellschaft betätigt, sondern
die Verbrechen als eine Art Geschäftszweig, als ein Element des Marktes
begreift und begeht und sie teilweise am Markt verkauft.[8] Östlich von Ungarn verlief dieser Prozess etwas verspätet,
deshalb sind hier auch noch im 19. Jahrhundert in großer Zahl
Bettlergesellschaften zu finden.[9] Diese Veränderung konnte sich in Ungarn bis Ende des 18.
Jahrhunderts (oder eher früher) abspielen, denn die Quellen zur Gaunersprache
aus dem 19. Jahrhundert (zum Beispiel die Wortliste von Toronyai) beinhalten
schon in großer Menge Wörter, die auf Stadtverbrechen und internationale
Kontakte hinweisen, das Wortinventar kündet also schon von ganz anderen
Praktiken der Kriminalität.
4.
Als erste Quelle für eine ungarische
Geheimsprache seien die Zeilen über die Sprache der Bettler von Simánd (lingua
caecorum) im Werk “Hungaria” von Miklós Oláh aus dem Jahre 1536 zitiert. Im
Traktat des Erzbischofs von Esztergom heißt es: “Es gibt — um es so zu nennen
— ein Dorf zwischen der Mieresch und der Weißen Kreisch außerhalb von
Siebenbürgen, das Simánd heißt.
Dieses Dorf bewohnen fast nur Hinkende, Blinde, Lahme und scheußliche Krüppel,
die keinem gesunden Menschen erlauben, es zu betreten; sie rühmen sich ihrer
Missgestaltungen und bilden dabei eine ganz eigene Gemeinschaft. Um diese in
ihrer verkrüppelten Ganzheit unversehrt zu bewahren, höhlen die Eltern ihren
Säuglingen bei der Geburt sofort die Augen aus, sie verrenken ihre Knochen und
Glieder, und damit sie sich von den anderen nicht in ihrem Körper
unterscheiden, sondern auch was ihre Sprache betrifft, haben sie sich eine
eigene Sprache geschaffen, die einzig und allein nur sie verstehen, und die
Blindensprache genannt wird.”[10]
4.1.
Die Beschreibung der Bettler von
Simánd und ihrer Sprache wirft bis heute ungeklärte Fragen auf, ob nämlich im
Bericht von Miklós Oláh wirklich ein Bettlerslang angesprochen ist oder, wie
einige Wissenschaftler meinten, über Zigeuner berichtet wird und die Simánder
Bettlersprache daher nichts anderes wäre als eine Sprache, die für die
Bevölkerung in der Gegend eine unverständliche Fremdsprache war.
Nach Gábor Fábián und Sándor Márki[11] bezieht sich die Beschreibung von Miklós Oláh nicht auf die
Bewohner von Simánd, sondern auf die in Zelten wohnenden Zigeuner, die sich
bei Simánd niederließen und über die am Anfang des 16. Jahrhunderts, da man
ihre Lebensgewohnheiten nicht kannte, dieses von Oláh aufgezeichnete Gerücht
entstand. Die Nachricht könnte aber etwas Wahres an sich haben, indem diese
Zigeuner, die auch der Bettelei nachgingen, sich wirklich als Krüppel
verstellten. Da die Zigeuner von der ungarischen Bevölkerung völlig getrennt
in ihren Behausungen lebten, sei es ganz natürlich, dass niemand ihre Sprache
verstand. Auf diese Weise wäre diese Sprache nur für Außenstehende, die die
Zigeunersprache nicht beherrschten, eine “Geheimsprache”.[12]
Hiador Sztripszky meint im Gegensatz zu Fábián und Márki
singende Bettler in diesen sonderbaren Menschen zu entdecken, er sagt, “dass
die Zigeuner auch damals nur sein konnten, was sie heute sind: Geiger,
Schmiede, nomadisierende Pferdediebe, die eher eingegrabenes Aas essen als
sich auf singende Bettelei zu verlegen.”[13]
Auf Grund der im Zusammenhang mit der Entstehung und dem
Weiterbestehen der Bettlerzünfte reichlich zitierten Angaben und mehrerer
anderer Argumente von Sztripszky kann man mit genügend großer
Wahrscheinlichkeit behaupten, dass die von Miklós Oláh erwähnte
“Blindensprache” ein Argot im 16. Jahrhundert war, von dem man aber kein Wort
mehr kennt.
5.
Erste Wortlisten einer
Gaunersprache, die man auch heute noch kennt, entstanden verhältnismässig
spät, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, als einer weitverzeigten Bande
von Marktdieben der Prozess gemacht wurde. Die Führer und sämtliche Mitglieder
der Bande wurden 1775/76 sowie später nach einer Reorganisation der Bande 1782
festgenommen und in verschiedenen Städten Ungarns vor Gericht gestellt. Die an
den Prozessen beteiligten Offiziellen schenkten auch der Sprache der Ganoven
große Aufmerksamkeit, deshalb enthalten die Protokolle der Prozess-Serie in
größerer Menge Argotwörter. Ein Teil dieser Ausdrücke dürfte damals
wohlbekannt gewesen sein (so kommt zum Beispiel auch in der Sprache der die
Angeklagten befragenden Person oft das Wort
rajzol [eigentlich zeichnen]
’stehlen’ vor); man hielt es dazu auch für angebracht, weitere Ausdrücke in
der Antwort der Angeklagten extra auch noch aufzuzeichnen. Auf Grund dieser
stellte man bestimmt auch kleine Wortlisten zusammen, die man dann anderen
Gerichten schickte, wo sie sicherlich ergänzt und beim Verhör wieder erweitert
wurden. Zur Zeit hat man insgesamt von fünf Wortlisten mit 28–78 Wörtern
Kenntnis.
5.1.
Es handelt sich um die folgenden
Wortlisten:
5.1.1.
“Vocabula vero, quibus iidem uti Solebant, uti Nobis
revelatum extitit, Seqvuntur hoc Ordine’” [Und
jetzt folgen in dieser Reihenfolge die Wörter, die sie zu benutzen pflegen,
wie sie uns verraten haben]. Die mit “Miskolcer Wörterverzeichnis” betitelte
und mit 9. Mai 1775 datierte Quelle enthält 28 Wörter.[14]
5.1.2.
“Lingva idiotica furum Complurium in una Societate et ingenti
Banda Constitutorum per Captivum Eppalem Joannem Kovács asÿlantem dicita. 28o 9bris
1775” [Die
eigenartige Sprache einiger Diebe, die sich als Gemeinschaft und mächtige
Bande organisiert hatten, diktiert vom aus E. verbannten Gefangenen János
Kovács am 28. September 1775]. Die 70 Wörter umfassende Wörterliste kam im
Budapester Piaristenarchiv zum Vorschein.[15] Das Interessante daran ist, dass die Wörter von den Quellen
dieser Zeit abweichend angeblich nicht während eines Gerichtprozesses
aufgezeichnet wurden, sondern der Schreiber den Wortschatz des im Titel
genannten Sträflings zusammenstellte.
5.1.3.
“Zsivány Szók” [Ganovenwörter]
Bei diesem Wörterverzeichnis mit seinen 78 Ausdrücken dreht es
sich um das umfangreichste ungarische Argotsprachdenkmal.[16]
5.1.4.
“Annô 1782. Die 17â
Aprilis, sub Sedria Districtûs Privilegiator Oppidorum Hajdonicalium Causarum
Criminalium Revisoria, in Oppido Böszörmény celebrata, Consignatio Terminorum,
et Vocum, qvibus Fures Nundinales, vulgô ’Sivány, seu Vásári Tolvaj, in mutuo
colloqvio, occasione patrandorum furtorum uti consveverunt” [Die
Sitzung der Strafuntersuchungskomission des Bezirksgerichtshofes der
privilegierten Heiduckenstädte am 17. April 1782, die in der Stadt Böszörmény
abgehalten wurde; das Verzeichnis der Wörter und Wendungen, die die Marktdiebe
(in der gewönlichen Sprache ’Sivány
oder Vásári Tolvaj) in den
Gesprächen unter einander während der Diebstähle zu verwenden pflegen].[17]
Diese Wortliste von Jablonczay, auch “Wörterverzeichnis aus dem
Heiduckenkreis” bezeichnet, die 74 Wörter enthält, ist die bekannteste Quelle
der ungarischen Gaunersprache; der ungarische königliche Statthalterrat
schickte diese Wortliste in einem Rundschreiben an alle Munizipien[18],
dank dessen wurde das Wörterverzeichnis von Jablonczay im
ganzen Land bekannt, viele Munizipien schickten es in einer Abschrift an die
untergeordneten Institutionen der Bezirke und Gemeinden, daher sind die 74
Wörter dieser besonders bedeutenden Quelle in mehreren Variationen
überliefert.[19]
5.1.5.
In der ungarischen linguistischen
Fachliteratur wird das Wörterverzeichnis von Eger, das zahlreiche
Ähnlichkeiten mit dem zuletzt genannten Verzeichnis aufweist, als Quelle vom
Anfang des 19. Jahrhunderts gewürdigt. Es enthält eine Aufzeichnung, die als
abweichend vom “Lexicon Ungaricum” von Raphaëlis Takáts beigefügt ist.[20] Das selbständige Blatt mit der Pagina 310, welches das
Wörterverzeichnis enthält, ist am Ende des Buches eingelegt. Das
Entstehungsjahr ist zwar 1811, aber hinsichtlich des Sprachmaterials kann man
ganz sicher sagen, dass es älter ist, es steht wahrscheinlich in näherer
Beziehung zu den Wörterverzeichnissen, die um 1775–1776 entstanden waren und
die unter Ziffer 5.1.1. und 5.1.3. genannt
sind:
“Dictionarium Novum in Sede Dominali Episcopali Agriae Die 29 Novemb
conscript• a latronib interceptis,
adhuc in latrocinio suo existentib excogitat•”[Neues
Wörterbuch, das am 29. November auf dem Erzbischofsitz in Eger von den
gefangenen Räubern zusammengeschrieben wurde, diese benutzten sie während
ihrer bisherigen Raubtaten].[21]
5.2.
Diese fünf Wörterverzeichnisse
können als Quellen einer sogenannten Ganovensprache der Alföld (Tiefebene)
betrachtet werden. Mit einer Ausnahme
(5.1.3.
® 5.1.4.)
sind sie keine direkten Abschriften
voneinander, obwohl ein bedeutender Teil ihres Wortschatzes, der zusammen etwa
100 Lexeme beträgt, übereinstimmmt. Die Differenzen rühren überwiegend von
einem früheren unbekannten Wörterverzeichnis her bzw. betreffen Ergänzungen am
Ende der einzelnen Wortlisten.
Die gefundenen Wörterverzeichnisse sind vermutlich teilweise
Abschriften, teilweise solche Abschriften ergänzende Sammlungen, an einigen
Wörterverzeichnissen ist nämlich gut festzustellen, dass man am Ende der
vorhandenen Liste — oft von anderer Hand aufgezeichnet — hinzugekommene
Ausdrücke schrieb. Dem unter 5.1.2.
erwähnten Piaristenwörterverzeichnis zufolge kann man annehmen, dass die
Praxis existierte, dass Wörter einer vorhandenen Liste anhand der Befragung
einer Person, die die Gaunersprache kannte, überprüft wurden.
5.3.
Die Wörterverzeichnisse zur Gaunersprache aus dem letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts geben das Bild einer typischen ungarischen
Gaunersprache wieder. Das Argot der Marktdiebe, das am Land (also nicht in den
größeren verbürgerlichten Städten) verwendet wurde, formte sich größtenteils
aus den Elementen der ungarischen Sprache. Da man andere Typen der Argots aus
dieser Zeit nicht kennt, kann man nicht wissen, wie typisch das im Allgemeinen
für die ungarische Gaunersprache dieser Zeit war, die späteren
Verbrechersprachen in den Großstädten (vor allem in Budapest), die mit Daten
belegt sind, zeigen einen viel stärkeren fremdsprachlichen Einfluss. Nach
Géza Bárczi[22] hat mehr als die Hälfte der Wörter der Ganovensprache der
Alföld einen ungarischen Ursprung (zum Beispiel
mester [eigentlich: Meister]
’Henker’, rikkantó [eigentlich:
Schreier] ’Ente’, fejes [eigentlich:
mit Kopf] ’Herr Offizier’, perge
[eigentlich: rollende] ’Wagen’, kígyó
[eigentlich: Schlange] ’Gürteltasche’ usw.). Neben den Belegen aus interner
ungarischer Entwicklung sind auch deutsche, slawische, zigeunerische,
hebräische und lateinische Lehnwörter zu finden. Deutschen Ursprung haben zum
Beispiel kajzer ’Gemeindeweibel der
Ganoven’, hontiroz ’ableugnen’,
slawischen komnyik ’Hehler’,
szlepriska ’Soldat’, zigeunerischen
ruhi ’Schlag’, haduvál
’ausrufen’, es gibt Beispiele sogar für hebräische Wörter, die in der späteren
städtischen Gaunersprache eine große Rolle spielen:
coff ’Einforintstück’,
pledi ’laufe!’. Abgesehen von der
Entlehnungspraxis als solcher gibt es weitere überraschende Übereinstimmungen.
Wahrscheinlich eine zufällige Übereinstimmung ist ungarisch
kaparó [eigentlich: Kratzer] und
deutsch Mistkratzer (beide bedeuten
’Huhn’); es lässt sich aber ein direkter Zusammenhang zwischen dem ungarischen
nagy víz [eigentlich: großes Wasser]
’stark besuchter Markt, wo es leicht ist zu stehlen’ und dem deutschen
Rotwelsch See ’Gesichtskreis der
Dieberei’, Seewacher, Seefuhrer
’Taschendieb’ vorstellen. Einige lateinische Wörter der Ganovensprache der
Alföld weisen darauf hin, dass sich auch von der Schule verwiesene Studenten
unter den Marktdieben finden konnten:
kanafória ’Galgen’ (vgl. lat.-griech.
canephoros, canephora ’(die Statue)
des korbtragenden Mädchens’), singula
’Hure’, posterium ’Kerker’.
6.
Nach den Wörterverzeichnissen der
Prozesse 1775/82 gegen die Marktdiebe wurde aus dem Zeitraum bis 1862 keine
weitere bedeutende Quelle für die ungarische Gaunersprache aufgefunden. Das
ist sehr bedauerlich angesichts der Ansprüche einer
entwicklungsgeschichtlichen Darstellung, denn gerade aus jener Epoche fehlen
Angaben, in der die großstädtische Gaunersprache, in der die fremden, vor
allem deutschen und jiddischen Elemente zu überwiegen beginnen, den Platz des
ländlichen Argots einnimmt, das hauptsächlich ungarische Elemente innerer
Entwicklung enthalten hatte.
7.
Als Übergang zwischen den zwei
abweichenden Typen mag das Wörterverzeichnis von Toronyai gelten, das Wörter
ländlicher Gaunersprache aus innerer Entwicklung ebenso einschließt wie
städtisches Argot mit Elementen fremden Ursprungs in großer Zahl. Es handelt
sich dabei um das erstmals für ein breites Publikum zusammengestellte
Wörterverzeichnis, das in dem Büchlein: “Zur Enthüllung der untereinander
gebrauchten falschen und verworrenen Reden der Räuber, Diebe und Kosaken…”
(1862) zu finden ist. Der zweite Abschnitt der 63 Seiten umfassenden
schlichten Arbeit von Toronyai ist ein 7-seitiges, 177 Wendungen enthaltendes
kleines Wörterverzeichnis (27–33), in dem der Verfasser die Wörter der
Gaunersprache durch je zwei ungarische Gattungswörter erklärt.
Die linguistische Bewertung des Wörterverzeichnisses leistete
Mihály Hajdú (1968), der Bárczis Annahme bekräftigte, dass “der Wortschatz
hauptsächlich ungarisch ist, aber schon das bedeutende Eindringen der fremden
Elemente bezeugt”[23]. Das größte Verdienst des kleinen
Wörterverzeichnisses liegt gerade darin, dass es die Phase der Veränderung
verewigt, als die ländliche Ganovensprache sich mit der städtischen
Gaunersprache, die fremdsprachliche Elemente in großer Menge aufnahm, zu
vermischen begann. (Die ländliche Gaunersprache bewahrte vermutlich auch
später diesen “vermischten” Charakter, was trotz der großen Zahl der
Lehnwörter bedeutete, dass dieser Slangtyp grundsätzlich immer ungarische
Eigenheiten aufwies.)
Das auffälligste Charakteristikum des Wörterverzeichnisses von
Toronyai ist neben den zunehmenden deutschen (Czinkolva
’erkannt, bemerkt’, Firolni
’anschwindeln, rufen’, Pajzli
’Beisel’, Untermakker ’fliehen’
usw.) und jiddischen (Tzoldova
’zahlen’, Dalesz ’Armut’,
Khavér ’Partner’, Sokher
’arm’ usw.) Wörtern die große Anzahl der Lehnwörter aus der Zigeunersprache:
Balhé ’es gibt Ärger’,
Csávó ’Junge’,
Kajálni ’zu Mittag, zu Abend essen’,
Piálni ’trinken’, Vakhere
’loben, rühmen’ usw. Für die ungarische Gaunersprache ist von da an bis heute
typisch, dass sie verhältnismäßig viele Lehnwörter aus der Zigeunersprache
enthält.
8.
Von den achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts an erschienen Wörterverzeichnisse und Wörterbücher, die
Verbrecher-Sprache repräsentieren, in größerer Zahl und in größerem Umfang.
Sie setzen sich ohne Außnahme mit dem Slang der Diebe auseinander, wie er in
größeren Städten (allem voran in Budapest) anzutreffen war. Über dieses Argot
lässt sich allgemein sagen, dass es unter einem sehr starken deutschen bzw.
durch die deutsche Gaunersprache vermittelten jiddischen Einfluss stand.
Vielleicht trifft die Annahme zu, dass die ungarische Gaunersprache unter
deutschem Einfluss und das der Magyarisierung ausgesetzte heimische Deutsch in
diesem großstädtischen Argot zusammenschmolzen.
Um die Jahrhundertwende dürfte von außen betrachtet das
hebräisch–jiddische Wortgut eines der auffälligsten Eigenheiten der
Gaunersprache gewesen sein. Das (und die vermutlich wirklich vorhandene
jüdische Kriminalität, die wahrscheinlich ein viel geringeres Ausmaß hatte,
als angenommen wurde) war der Grund für die zeitgenössische antisemitische
Anschauung, die das Verbrechertum und die gefährlichsten Kriminellen jüdischer
Herkunft zuordnete: “In unserer Heimat sind die gefährlichsten Diebe bis zum
heutigen Tag die ausländischen Diebe und zwar die deutschen, russischen,
polnischen, aber in allererster Linie die Juden aus diesen Nationalitäten” —
schrieb
Pál Nagy.[24] Diese Behauptung taucht später auch in der ungarischen
Linguistik als “wissenschaftliche” Tatsache auf: “Es ist eine Tatsache, dass
die hebräische Sprache — lósaun
hákkaudes (heilige Sprache) — der Gaunersprache als Basis diente. Das
bezeugt die unzweifelhafte, also beweisbare Wahrheit, dass diese Sprache bis
heute den Kern der Gaunersprache aller europäischen Nationen bildet. Die erste
Gaunersprache war einheitlich.”[25]
Szirmay führt die Herausbildung der Gaunersprache aus dem
Hebräischen in gerader Linie in die Zeit des Römischen Reiches zurück; er
behauptet: “Von der damaligen Gaunersprache blieb natürlich keine Aufzeichnung
erhalten, aber es ist wahrscheinlich, dass ihr Grund die jüdische Sprache war,
denn die heutige Gaunersprache hat sie immer noch als Hauptmoment. Die
Begründung ist offenbar. Die Juden, die aus irgendeinem Grund ins Gefängnis
gerieten, sprachen in ihrer eigenen Muttersprache, die die Wächter nicht
verstanden, auf diese Weise verkehrten und sprachen sie untereinander, ohne
von der Außenwelt kontrolliert werden zu können. Die nicht-jüdischen Häftlinge
beneideten die Juden um diesen Vorteil und strebten danach, ihre Wendungen zu
erlernen.”[26] (Warum deren eigene nicht-latenische Sprache keinen ähnlichen
Vorteil offerierte, schweigt sich Szirmay allerdings aus.)[27]
9.
Die frühesten Denkmäler der
städtischen Gaunersprache in Ungarn stammen nicht etwa aus ungarischem,
sondern aus deutschem Argot. Darin liegt begründet (abgesehen vom großen
Einfluss der deutschen Gaunersprache auf die ungarische), dass die
Fachliteratur die betreffenden Texte als Quellen für ungarischen Argot in
Evidenz zu halten pflegt. Dieses Verfahren kann natürlich nur mit großem
Vorbehalt und mit Rücksicht auf spezielle sprachliche Gegebenheiten der
Zweisprachigkeit in deutsch–ungarischen Städten der Jahrhundertwende
angenommen werden.
9.1.
Das erste umfangreichere Wörterbuch
dieser deutsch/ungarischen Gaunersprache, die einen unsicheren sprachlichen
Status hat, ist typischerweise ein aus dem Deutschen ins Ungarische
übersetztes Argotwörterbuch mit dem Titel “Tolvajnyelv…” [Gaunersprache…]
(Nagy 1882). Dieses kleine Büchlein von 83 Seiten ist die Übersetzung des
Werks von A. F. Thiele, dem Preußisch-königlichen Schriftführer in
Strafangelegenheiten, mit dem Titel “Die jüdischen Gauner in Deutschland, ihre
Taktik, ihre Eigenthümlichkeiten und ihre Sprache”, das 1848 in Berlin
erschien. Das Büchlein enthält in erster Linie Ausdrücke der internationalen
Gaunersprache, obwohl der Übersetzer auch die notwendigsten in Österreich und
in Ungarn benutzten Gauner- (Jenisch)wörter aufnahm (siehe den Anhang des
Buches auf Seite 80/82).
Dieses Wörterbuch als Denkmal der ungarischen Gaunersprache zu
bezeichnen, ist — auch infolge dessen, dass es sich um eine Übersetzung
handelt — eine Verlegenheitslösung. Sein Wortinventar repräsentiert ohne
Ausnahme Wendungen des deutschen Argots, obwohl einige von ihnen schon in
jener Zeit (und besonders in den darauf folgenden Jahrzehnten) in den Fundus
der ungarischen (städtischen) Gaunersprache eingingen.
9.2.
Das Buch des Staatspolizeiinspektors
Kálmán Berkes “A tolvaj élet ismertetése” [Die Darstellung des Lebens der
Diebe] wurde mit einer grundsätzlich kriminologischen Intention verfasst, die
gaunersprachliche Sammlung kommt als ein Mittel zur Präsentation von
Kriminalität ins Spiel. Es enthält reichlich Argotmaterial, es gibt da eine
Rezension “Über die Gaunersprache” (S. 98–100), etwa 800 Wörter im Kapitel
“Sammlung der Gaunerwörter” (S. 101–39), “Gaunerzahlen” (S. 139–40) und
“Gespräche in der Gaunersprache” (S. 141–82). Dieses Werk erschien 1889 in der
Umarbeitung von
Győző Erdélyi
auch in einer deutschen Ausgabe.[28] Das Wörterbuch der deutschsprachigen Ausgabe veröffentlicht
nur die Wörter fremder (hauptsächlich deutscher und jiddischer) Herkunft, die
Wörter ungarischen Ursprungs aber nicht.
Der Teil des Werkes von Kálmán Berkes, der sich mit der
Gaunersprache beschäftigt, besteht im Gegensatz zur Wörterbuchübersetzung von
Pál Nagy ausschließlich nur aus in Ungarn und in Budapest gebrauchten Wörtern
und beinhaltet auch einige wichtige theoretische Bemerkungen. Die wichtigste
davon ist der Hinweis auf den Registercharakter der Gaunersprache als
Sondersprache; in der Formulierung von Berkes: “Die Gaunerrede- oder sprache
ist keine organische Rede. Sie ist eigentlich ein Kauderwelsch, das während
Jahrhunderte aus den verschiedensten Sprachen durch vielerleie heterogene
Umwandlungen entstand. Das ist ein
Lexikon ohne Grammatik.”[29] Eine interessante Angabe über den Gebrauch des Argots
(eigentlich über seine Integration in die Grundsprache [eng. vernacular
variety]) ist die Beobachtung von Berkes, dass die Verbrecher “die
Gaunersprache in der Familie als eine normale Umgangssprache anwenden”.[30]
Den Wörterverzeichnissen und Dialogen von Berkes lässt sich
deutlich entnehmen, in welcher Weise die ungarische und deutsche Gaunersprache
miteinander verflochten, als eine Art von spezieller bilingualer Erscheinung,
bestand. Die Komplexität des Phänomens wurde also durch die schon mehrfach
erwähnte deutsch–ungarische Zweisprachigkeit gesteigert, die die sprachliche
Situation in mehreren ungarischen Städten, auch in Budapest, kennzeichnete.
Die meisten Dialoge im Buch haben zum Beispiel eine deutsche Grundsprache.
Hier mag ein kurzes Beispiel dafür stehen:
“Lincz den Englisch an bei den fuchsmelochener, der ist alt
zum legen, chanscheck ist auch jetzt. Tuck her den dartl, ich werde es
aufschochern, und du czupfst dieshojre [= die shojre] und les sonika zum
passer damit, ich kraut dir nach.” [Schau
dir mal das Schaufenster beim Goldschmied an, da lohnt sich ein Raub und die
Zeit ist jetzt günstig dazu. Gib den Dietrich her, ich werde aufsperren und du
nimmst die Beute, geh damit sofort zum Hehler, ich komme nach.][31]
9.3.
Bei der Erforschung des Argots im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Ungarn wird sehr schön deutlich, dass
der entwickelte Wortbestand der deutschen Gaunersprache den damals viel
ärmlicheren ungarischen Wortschatz unterdrückte. Die Madjarisierung der
Gaunersprache findet erst nach dem Untergang der österreichisch-ungarischen
Monarchie statt, obwohl sich dieser Prozess schon im Wörterbuch von
Jenő–Vető
abzeichnet, das 1900 erschienen ist. Er zeigt sich später
auch im Wörterbuch der Polizei aus dem Jahre 1911 (TolvnySz. 1911), in dem die
deutschen Formen zwar noch dominieren, aber ihre Proportion nimmt ab. Das von
István Szirmay zusammengestellte Wörterbuch von 1924 bildet schon eine völlig
madjarisierte Gaunersprache ab, in der sich die erhaltenen fremden Elemente in
ihrer Lautform und ihrem Aufbau stark verändert und sich der ungarischen
Sprache angeglichen haben.[32]
Nach der Berechnung von
Jenő
und
Vető
enthält ihr Wörterbuch 33% Wörter deutscher, 25% ungarischer,
20% hebräischer Herkunft und 5% aus Zigeunersprachen.[33] Die Verteilung gestaltete sich nach einem Vierteljahrhundert
in folgender Weise neu: 20% Wörter deutscher, 5% hebräisch-jiddischer, 2%
zigeunerischer und 70% ungarischer Herkunft.[34]
Bezüglich dieser Proportionen und hinsichtlich anderer Merkmale
stehen diese Phänomene bereits dem Bild sehr nahe, das im heutigen Argot zu
beobachten ist, deshalb kann man ruhig behaupten, dass die historische Epoche
der ungarischen Gaunersprache in den zwanziger Jahren abgeschlossen wurde. Der
seitdem verstrichene Zeitraum gehört schon der modernen Epoche der ungarischen
Gaunersprache an, der an die Vorgeschichte organisch anknüpft, aber in vielem
davon abweicht.
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A szlengkutatás útjai és lehetőségei.
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Nagy, Pál 1882 =
Tolvajnyelv (mely Európa legnagyobb
részében nem csak a tolvajok, hanem az orgazdák és hozzátartozóik által is
használtatik) [Gaunersprache (die im Europas größten Teil nicht nur von
den Dieben sondern auch von den Hehlern und Verwandten gebraucht wird)]. Nach
A. F. Thiele und anderen übersetzt aus dem Deutschen ins Ungarische von Pál
Nagy.
Győr.
Nagy, Sándor (1970): Zsivány
nyelv a XVIII. században [Ganovensprache im 18. Jahrhundert].
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Oláh Miklós 1536/1735 = Nicolai
Oláhi Archi-Episcopi Strigoniensis Hvngaria, sive De Originibus Gentis, Regionis Situ, Diuisione, Habitu, atque
Opportunitatibus, liber singvlaris [Ungarn oder die Herkunft seines Volkes,
die heutige Situation, Aufteilung, Bräuche und günstige geographische Lage
seiner Länder, ein vorzügliches Buch von Miklós Oláh, Erzbischof von
Esztergom]. In: Bél Mátyás: Adparatvs ad
historiam Hvngariae, sive collectio miscella, Monumentorum ineditorum partim,
partim editorum,
sed
fugientium.
[Angaben zur Ungarns Geschichte oder eine gemischte
Sammlung von teilweise unveröffentlichten, teilweise veröffentlichten, aber
leicht verlorengehenden Dokumenten]. Conquisiuit, in Decades partitus est, & Præsationibus,
atque Notis illustrauit, Matthias Bel. Posonii,
1735. 1–38.
Oláh, Miklós 1536/1938 =
Nicolaus Olahus: Hungaria — Athila.
Ediderunt Colomannus Eperjessy et Ladislaus Juhász. (Bibliotheca Scriptorum
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Bevezető József főherczeg
“Fundamentum linguae zingaricae J. J. M.
Koritschnyák. Anno 1806.” c. közleménye elé [Eingeleitet von Erzherzog Joseph:
“Fundamentum linguae zingaricae J. J. M. Koritschnyák. Anno 1806.”].
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der Gaunersprache]. Verlegt von der Kriminalsektion des
Staatspolizeipräsidiums. Budapest.
Toronyai, Károly (1862):
A rablóknak, tolvajoknak és kozákoknak együttvaló hamis és zavaros
beszédeik, hasonlóan hamis és titkos cselekedeteik felfedezéseül összeiratott
és kiadattatott a köznépnek ovakodási hasznára, és a rosz emberektől
való õrizkedéseikre [Zur Enthüllung der
untereinander gebrauchten falschen und verworrenen Reden der Räuber, Diebe und
Kosaken, sowie ihrer falschen und geheimen Taten und zur Vorsicht und zum
Schutz des gemeinen Volkes vor bösen Menschen]. Pest.
Török, Gábor (1957): Legrégibb
tolvajnyelvi szójegyzékünk [Das älteste Wörterverzeichnis unserer
Gaunersprache]. Magyar Nyelv, 53:
273–4.
(Übersetzt von Ágnes Ligeti)
*
Dieser Beitrag wurde mit der Unterstützung des Research Support
Scheme of the Open Society Support Foundation (563/1998) und eines
Bolyai-Forschungsstipendiums (BO/00425/98) verfasst.
[1]
Das erste für das große Publikum herausgegebene
Büchlein, das die verschiedenen Verbrecher und ihre Sprache vorstellt, zeigt
schon mit seinem Titel diese Absicht seines Verfassers: “Zur Enthüllung der
untereinander gebrauchten falschen und verworrenen Reden der Räuber, Diebe
und Kosaken, sowie ihrer falschen und geheimen Taten und zur Vorsicht und
zum Schutz des gemeinen Volkes vor bösen Menschen” (Toronyai 1862). Ein
ähnliches Ziel verfolgte auch Pál Nagy, als er Thieles Wörterbuch
übersetzte, wenn er schreibt: “wie der Soldat die Waffen seines Feindes, so
muss der, der sich mit Strafangelegenheiten abmüht, die Sprache der Diebe
kennen” (Nagy 1882: 3). — Neuere ungarische Jargonwörterbücher, die als
Ausgabe der Polizei und nicht etwa als linguistische Publikation
veröffentlicht wurden, sind zum Beispiel das Werk von Károly Kiss (1963)
oder von Boross–Szűts (1987).
[2]
A zichi és vásonkeői gróf Zichy-család
idősb ágának okmánytára.
Harmadik kötet [Die
Urkundensammlung des älteren Zweiges der Familie Graf Zichy, von Zich und
Vásonkeő.
Dritter Band]. Hg. Imre Nagy, Iván
Nagy und
Dezső Véghely.
Pest, 1874. S. 237.
[3]
Kovács–Sztrés 1994: 11–2; zu Sitten und Ritualen der verschiedenen
europäischen Diebeszünfte s. ebd.
[4]
Kovács–Sztrés 1989: 23–5.
[5]
Komitatsarchiv Hajdú-Bihar, Acta fiscalia
IV. A. 1018/d. 2. Bündel.
[6]
Vgl. Bárczi 1932: 3.
[7]
Szilágyi 1989: 233. Die Rede ist von “Plenarsitzungen” abhaltenden
Diebeskongressen, die seit den achtziger Jahren im Zweijahresabstand
veranstaltet werden, was übrigens auch Kovács und Sztrés bestätigen: 1994:
24.
[8]
Szilágyi 1989: 227.
[9]
Über sie schreibt Sztripszky: “Sie nehmen in
ihre geschlossene zunftmässige Gesellschaft Fremde nur auf, wenn sie
ausgewählte Proben und Torturen bestehen. Damit die Fremden ihre Worte nicht
verstehen, schufen sie eine eigene Sprache, die eigentlich hauptsächlich nur
die Verdrehung einiger Wörter der alltäglichen kleinrussischen Sprache ist,
aber die Bettlersprache hat eine verhältnismässig reiche eigene
Lexikologie.” (1908: 347, weiteres ebendort S. 347–8).
[10]
Oláh 1536/1735: 37; neuere Ausgabe: Oláh 1536/1938: 34.
[11]
Fábián 1835: 155–60, Márki 1890: 444.
[12]
Man kennt übrigens Aufzeichnungen, nach denen
selbst auch Zigeuner ihre Sprache benutzten, um sich abzuschließen: “Es ist
doch zu bemerken, dass die Zigeunerrasse auf ihre Sprache sehr viel hält,
wenn das eine oder das andere ihrer Wörter dem Volk schon sehr bekannt
geworden war, ersetzen sie es durch ein neues, damit niemand sie versteht,
zum Beispiel sagen sie für die Juden nicht mehr Biboldo,
sondern Csorvalo…” (Győrffy
1885: 5–6). — János Szmodis, Pfarrer von Gelse, “begeisterte
sich in solchem Maße für die Zigeuner und er konnte ihre Sprache so gut
sprechen, dass er ins Komitat Baranya nach Siklós ging, um dort eine
Zigeunerpredigt zu halten. Die Zigeuner haben sie sich angehört, sie haben
sie auch verstanden, aber sie begannen zu murren, was wird mit ihnen, wenn
auch die Herren ihre Sprache erlernen. Zuletzt musste Szmodis fliehen.”
(Ponori Thewrewk 1887: 705; die gleiche Information kommt auch beim
Erzherzog Joseph vor: 1888: 307).
[13]
Sztripszky 1908: 346–7.
[14]
Komitatsarchiv Nógrád: Nógrádm. Lt. Fiscalia fasc. XLV/36,
veröffentlicht von Török 1957.
[15]
Signatur: Varia For. 20. Fasc. 1/16 (V407), veröffentlicht von
Schramm 1962.
[16]
Filialarchiv des Komitatsarchiv Hajdú-Bihar in Hajdúböszörmény: IV.
A. 505/e. 7. Bündel. 1776. Fasc. J. No. 14/17. 17a–18b pp. Veröffentlicht
von Nagy 1970: 34.
[17]
Ungarisches Staatsarchiv: C 43 – Helytartótanácsi Levéltár
[Statthalterratsarchiv] – Acta secundum referentes – Sauska – 1782 – Fasc.
62.
[18]
Implom 1957: 271.
[19]
Die zahlreichen neueren Ausgaben des ursprünglichen Druckes und die
bis jetzt aufgefundenen handschriftlichen Kopien und ihre Publikationen
siehe: Kis 1996: 12–7.
[20]
Das Handschriftenarchiv der Ungarischen Wissenschaftlihen Akademie:
M. Nyelvt. 4-r. 33. sz.
[21]
Veröffentlicht von Heinlein 1908.
[22]
Bárczi 1932: 9.
[23]
Bárczi 1932: 11.
[24]
Nagy 1882: 3.
[25]
Jenő–Vető
1900: 16.
[26]
Szirmay 1927: 23.
[27]
Dass in einem Teil der europäischen Gaunersprachen eine signifikante
Menge von Wörtern hebräischer und jiddischer Herkunft zu finden ist, deutet
unbestreitbar auf einen bedeutenden Anteil jüdischer Krimineller hin. Obwohl
im Mittelalter vielleicht “aus diesem unterdrückten und verfolgten Volk die
meisten Diebe hervortaten” (Tábori–Székely 1908: 101), obwohl auch das eine
Rolle spielen konnte, liegt die Ursache jedoch — wie Tábori und Székely
ausführen, hauptsächlich darin, dass die hebräische Sprache “unter den toten
Sprachen am wenigsten bekannt ist” (ebd.), infolgedessen ist sie am besten
geeignet, als “Geheimsprache” zu dienen. Eine ähnliche Eignung als
Geheimsprache weist auch die Zigeunersprache auf (siehe Seite
5,
Fußnote
12).
[28]
Das Leben und Treiben der Gauner. Nach dem Ungarischen (“A tolvajélet
ismertetése”) des kön. ung. Polizei Inspectors, Koloman Berkes, deutsch
bearbeitet von Victor Erdélyi kön. ung. Polizeibeamte. Bp., 1889.
[29]
Berkes 1888: 99.
[30]
Berkes 1888: 21.
[31]
Berkes 1888: 155.
[32]
Zum Beispiel bauzi > bázi > bazi ’groß’, chóchem > hóhem ’schlau’;
Englisch ’Schaufenster’
®
angol [eigentlich: Englisch] ’Schaufenster’,
kotig ’schuldig’
®
sáros [eigentlich: kotig]
’schuldig’; über diesen Assimilationsprozess siehe Bárczi 1932: 20–33.
[33]
Jenő–Vető
1900: 29.
[34]
Balassa 1924: 11.